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Männerdiskriminierung 2.0

War das in diesem Jahr nun der zweite Streich oder bereits der dritte? – Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) hat die Schweiz diesen Oktober zum dritten Mal im Jahr 2022 verurteilt, nachdem er sie bereits im Februar in zwei gleichartigen Fällen mit Schweizer Vätern, davon einem IGM-Mitglied, verurteilt hatte. Die Menschenrechtsverletzung der Schweiz besteht im neuen Fall aus einer Diskriminierung von Männern aufgrund ihres Geschlechts. Fazit also: Drei EGMR-Verurteilungen der Schweiz für zwei Arten von Männer-Benachteiligungen im Jahr 2022.

Worum es ging

Im neuen Fall ging es um die Hinterlassenenrenten von Männern, oft auch Witwerrenten genannt. Der EGMR ist der Auffassung, dass die Schweiz einen Witwer aus dem Kanton Appenzell Ausserrhoden in seinem Recht auf Familienleben diskriminiert habe. Der heute 70-Jährige hatte damals, nach dem frühen Tod seiner Ehefrau, seine Stelle aufgegeben, um sich um die zwei kleinen Kinder zu kümmern. Im Jahr 2010, als das jüngere Kind 18 wurde und der Witwer 57 Jahre alt war, wurde ihm die AHV-Witwerrente gestrichen, die er bis dahin bezogen hatte. Wäre der Witwer eine Frau gewesen, hätte er weiterhin Anspruch auf eine Rente gehabt. Doch für Männer gelten in Schweizer Gesetzen andere Regeln: Als Vater von volljährigen Kindern erhält man als Mann keine Witwerrente mehr – anders als bei Müttern, anders als bei aktuell verheirateten, kinderlosen Frauen und anders als bei geschiedenen Frauen, die gewisse Bedingungen erfüllen.

 

Der Witwer nahm dies nicht hin und zog damals in der Schweiz vor Gericht. Er scheiterte vor allen Instanzen. Das Bundesgericht teilte ihm zwar mit, dass die Benachteiligung der Witwer der verfassungsrechtlich geforderten Gleichbehandlung von Mann und Frau widerspreche, doch der Gesetzgeber habe dies bewusst so entschieden (!). Auch davon liess er sich nicht beeindrucken und zog die Sache nach Strassburg, an den EGMR, weiter. Dort wurde die Schweiz bereits im Jahr 2020 wegen Geschlechterdiskriminierung verurteilt.

 

Kabinett der Peinlichkeiten

Da bei Diskriminierungen von Männern in Bundesbern offenbar ganz generell keinerlei Schuldbewusstsein vorhanden ist, legte die Schweiz gegen das EGMR-Urteil von 2020 eine Beschwerde ein und zog den Fall an die "Grosse Kammer" des EGMR weiter. Die Grosse Kammer des EGMR besteht aus 17 EGMR-Richtern und wird nur sehr selten angerufen. Ihre Aufgabe besteht darin, bei Beschwerden von verurteilten Staaten, sogenannten "Staatenbeschwerden", das endgültige Urteil zu fällen. Im Prinzip handelt es sich bei ihr also um die Rekursinstanz des EGMR.

 

Die Staatenbeschwerde der Schweiz wurde mit drei Argumenten begründet:

  • Da die Schweiz das erste Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention, in dem es um Sozialleistungen geht, nicht ratifiziert habe, würden die Hinterlassenenleistungen nicht in das Zuständigkeitsgebiet des Strassburger Gerichtshofs fallen.
  • Auch sei der Kläger durch den Wegfall der Witwerrente nicht in seinem Familienleben eingeschränkt gewesen, da seine Kinder praktisch bereits nicht mehr zu Hause gewohnt hätten.
  • Die Besserstellung der Witwen sei zudem aufgrund der sozialen Realitäten nach wie vor gerechtfertigt.

 

Die Grosse Kammer lehnte nun, im Oktober 2022, endlich die Staatenbeschwerde der Schweiz mit 12 zu 5 Stimmen ab und verurteilte die Schweiz betreffend den folgenden Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK):

  • Artikel 14 (Diskriminierungsverbot)...
  • ...in Verbindung mit Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).

 

Die Grosse Kammer des EGMR argumentierte:

  • ...dass die unterschiedliche Gesetzgebung zu den Hinterlassenenleistungen von Witwern und Witwen die Geschlechterstereotype verstetige, und
  • ...dass sie ein Nachteil sei sowohl für die Karriere der Frauen wie für das Familienleben der Männer.

 

Die Übergangsregelungen

Vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) wurden ab sofort gültige Übergangsregelungen eingeführt:

  • Witwer erhalten die Rente künftig weiterhin ausbezahlt, wenn das jüngste Kind volljährig wird.
  • Wird ein Ehemann neu Witwer, so hat er Anspruch auf eine Rente, auch wenn das jüngste Kind bereits volljährig ist.
  • Witwer, bei denen ein Rekurs gegen das Auslaufen der Witwerrente hängig ist, erhalten weiterhin eine Witwerrente.
  • Witwer mit rechtskräftiger Verfügung gehen leer aus.

 

Diese Übergangsregelungen gelten so lange, bis sie von der Politik durch neue oder geänderte Regelungen ersetzt werden.

 

Kabinett der Peinlichkeiten – zweiter Akt

Der mittlerweile 70-jährige Kläger, der seit einigen Jahren übrigens in Peru lebt, hat in seiner Beschwerde Nachzahlungen von CHF 189'355 für seinen Rentenausfall verlangt. Diesen Betrag hat ihm der EGMR allerdings nicht explizit zugesprochen. Die Schweiz wurde vom EGMR nur zur Deckung seiner Unkosten in Höhe von EUR 16'500 und zu einer Genugtuung von EUR 5'000 verurteilt. Der EGMR hat ihn bezüglich seiner Rentennachforderung ans Schweizer Bundesgericht zurückverwiesen, denn formal hielt der EGMR nur fest, dass die bisherige Schweizer Regelung die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt. Für die korrekte Bemessung der Rentennachforderung sei das oberste Gericht des verurteilten Staats, also das Schweizerische Bundesgericht, zuständig.

 

Der Fall ist nicht ausgestanden – das finale Ergebnis bleibt abzuwarten.​​​

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